Jetzt, wo sich das Jahr und Angela Merkel ihrem Ende zuneigen, ist die Zeit der Besinnungsaufsätze gekommen. Die Einheitspresse dudelt uns voll mit Beiträgen à la „Es geht uns doch gold“ und „Wirdschonwieder“, und bei den Discountern kostet der Liter Billigfusel knapp unter zwei Euro. Wir sind Luther, und das schon seit 500 Jahren, was will man mehr?
Doch, es gab eine Zeit, als die Deutschen, die ja heute nicht mehr so heißen und sein wollen (lieber etwas zwischen „überzeugte Europäer“ und „die, die schon länger hier leben“), noch mehr wollten, mehr wollen mussten. Auch diese Zeit hätte Anlaß für ein Gedenken, für ein Jubiläum geboten, denn es ist doch heuer 100 Jahre her.
Nein, die Rede ist nicht von der Oktoberrevolution (deren Geburtshelfer das Deutsche Kaisserreich war, indem es Lenin wie einen ansteckenden Virus in einem verplombten Zug nach Petersburg verschaffte). Sondern von dem anderen epochalen Ereignis, das sich in diesem vergehenden, bleiernen Jahr 2017 zum hundertsten Mal jährt: dem Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg.
Ich habe ein wenig im Netz hin- und hergesucht, aber tatsächlich ist das Jubiläum hierzulande, wenn man einmal von einem honorigen Artikel im „Handelsblatt“ absieht, nicht angemessen begangen worden, meine ich. Denn der Kriegseintritt der USA 1917 hat doch – das dürfte unter Historikern unbestritten sein – den Ausgang des ersten Weltkrieges und damit die Geschichte des zurückliegenden Jahrhunderts bis heute maßgeblich beeinflusst.
Was gewesen wäre, wenn die Amerikaner nicht auf Seiten Englands und Frankreichs in den Krieg eingegriffen hätten, sondern neutral geblieben wären, ist leicht zu sagen: Das Deutsche Kaiserreich wäre nicht zusammengebrochen, sondern hätte sich in einem „Siegfrieden“ bestätigt und in seiner Existenz gerechtfertigt gesehen. Die Deutschen wären aber wohl weder zur Weltherrschaft gelangt, noch hätten sie diese angestrebt. Wozu auch? Es wäre Ihnen ja, nachdem die Revanchisten in Frankreich und die Imperialisten in England endgültig zum Schweigen gebracht worden wären, noch mindestens ein Jahrhundert so gut gegangen wie in der „guten alten Zeit“, nämlich dem heute als „wilhelministisch“ verschrieenen Kaiserreich.
Stattdessen kam die Erschöpfung, der Zusammenbruch vom November 1918 und dann das – ich schreibe das bewusst ohne Anführungszeichen – Diktat von Versailles, ein empörend ungerechtes, verlogenes Dokument, das nicht zuletzt wegen der Zuschreibung der alleinigen Kriegsschuld an Deutschland und der ruinösen Reparationen den Keim des nächsten Krieges in sich trug, den des Zweiten nämlich, der den Amerikanern endgültig die Weltherrschaft und den Russen die Rolle des Buhmanns bescherte.
Ohne 1917 kein 1933, und auch kein 1945. Das dürfte auch der Grund dafür sein, weshalb die Geschichte des „Großen Krieges“, wie die Engländer den Ersten Weltkrieg zu recht immer noch nennen, hierzulande viel zu kurz kommt. Die Deutschen könnten ja ins Nachdenken kommen. Stattdessen immer noch und überproprotional „Hitler und die Folgen“, im Schulunterricht wie in den Fernsehprogrammen. Das ist nicht nur Nazi-Porno, der sich im Übrigen gut verkauft, das ist auch bewusste Volksverdummung. Deutsche Geschichte, auch die des 20. Jahrhunderts, ohne ausreichende Behandlung des Ersten Weltkrieges zu vermitteln oder zu diskutieren, das ist so, als würde man den Dreißigjährigen Krieg mit dem Tod Gustav Adolfs beginnen lassen und nicht mit dem Prager Fenstersturz.
Natürlich hat das seinen Grund. Der Kriegseintritt der USA war nämlich alles andere als ritterlich. Er war in der Verlogenheit seiner Begründung, der Heimtücke des gewählten Anlasses und dem damit einhergehenden Betrug am amerikanischen Volk, das mehrheitlich neutral gesinnt war, beispielgebend für nahezu alle amerikanischen Kriege, bis hin zum zweiten Irakkrieg unter George W. Bush.
Um den komplizierten Hergang zu komprimieren, ist es hilfreich, zwischen vorgeschobenem Anlass und eigentlichem Kriegseintrittsgrund zu unterscheiden.
Vorgeschobener Anlass war die Versenkung der „Lusitania“, eines amerikanischen Passagierschiffs, das allerdings erhebliche Mengen an Waffen und Munition für die Entente transportierte. Es entsprach dem damaligen Kriegsvölkerrecht, solch ein Schiff als „feindlich“ einzustufen. Die Deutschen hatten immer wieder in den USA – sogar in Zeitungsannoncen – davor gewarnt, dass sie Schiffe, die Waffen oder Munition für England und Frankreich lieferten, angreifen würden. Jeder Passagier reiste somit auf eigene Gefahr. Dennoch löste die Versenkung der „Lusitania“ durch ein deutsches U-Boot im Frühjahr 1917 einen solchen „Aufschrei“ (auch so ein Wort) in der veröffentlichten Meinung der USA aus, dass sich Präsident Wilson, der eben mit dem Versprechen gewählt worden war, Amerika aus dem Krieg herauszuhalten, veranlasst sah, dem Deutschen Reich den Krieg zu erklären.
In Wirklichkeit war dieser äußere Anlaß von den angloamerikanischen Eliten lange gesucht worden. „We need an incident“ war die Losung, und den schaffte man, durch die offene Provokation des um seine Existenz kämpfenden deutschen Reiches. Hinter dem Anlaß verborgen lag der wahre Grund, nämlich die Kriegsverschuldung Englands und Frankreichs bei amerikanischen Banken. Aber diesen Grund konnte und wollte man dem amerikanischen Volk nicht zumuten. Daher das angebliche Kriegsverbrechen der Versenkung der Lusitania, in Wirklichkeit ein zwar tragischer, aber völkerrechtskonformer Akt.
Wir sehen am Beispiel „Lusitania“ das Grundmuster des amerikanischen imperialen Interventionismus der letzten hundert Jahre: Eine unverstellte Aggression will sich das Imperium Americanum nicht leisten, sei es aus Rücksichtnahme auf die Wähler daheim, sei es Gründen puritanischer Heuchelei, die ja nichts als die Verneigung der Sünde vor der Tugend ist, wie ein französischer Autor es einmal umschrieb. Also wird ein „Anlaß“ geschaffen, ein Kriegsgrund kreiiert, der mit dem geschönten und gefönten amerikanischen Selbstbild in Einklang steht. Das war beim angeblichen Zwischenfall im Golf von Tonking so, der den Vietnamkrieg erleichterte, ebenso bei Saddams Massenvernichtungswaffen, eine faustdicke Lüge als Startschuß zum zweiten Irakkrieg, deren Wiederholung Tony Blair zum bis heute unbeliebtesten Mann in Großbritannien machte.
Zurück in die Gegenwart. Die hiesige Nomenklatura in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst gebiert seit 1933, spätestens seit 1945, nur noch Mäuse. Das ist am einfachsten am sofortigen Vergessen zu erkennen, dem all diese Leute mit dem Verlust ihrer Macht, spätestens mit ihrem Ableben anheimfallen. Ich nenne ein paar Namen, statt aller: Grass, Lenz, Böll, oder auch Kohl, ja auch ein Helmut Schmidt, FJS. Sie sind Zwerge, und diese Zwerge sind die traurigen Erben des amerikanischen Kriegseintritts und Sieges. An ihnen, den Vor- und Nachbetern des „Westens“, den es so nie gab und den Donald Trump auf der anderen Seite des Atlantik gerade beerdigt, sieht man, was diesem Land alles widerfahren ist seit jenem Schicksalsjahr 1917. Wenn wir den Schleier der Maja, vulgo der Propogandalügen und Selbsttäuschungen, zerreissen, sehen wir Deutsche, dass wir seit jener Zeit nur auf der Verliererstraße sind, politisch, materiell, aber nicht zuletzt und vor allen Dingen geistig.
30.12. 2017 Theo B. von Hohenheim