„Ich sagte: die Geburtsstunde der Neuzeit wird durch eine schwere Erkrankung der europäischen Menschheit bezeichnet: die schwarze Pest. Damit soll aber nicht ausgedrückt sein, daß die Pest die Ursache der Neuzeit war. Sondern es verhielt sich gerade umgekehrt: erst war die „Neuzeit“ da, und durch sie entstand die Pest.[…] Der „neue Geist“ erzeugte in der europäischen Menschheit eine Art Entwicklungskrankheit, eine allgemeine Psychose, und eine der Formen dieser Erkrankung, und zwar die hervorstechendste, war die schwarze Pest. Woher aber dieser neue Geist kam, warum er gerade jetzt, hier, wie er entstand: das weiß niemand; das wird vom Weltgeist nicht verraten.“
Diese Zeilen schrieb Egon Friedell vor nahezu einem Jahrhundert in seiner ebenso amüsanten wie gedankenreichen „Kulturgeschichte der Neuzeit“. Sein Grundgedanke ist allerdings weder neu noch originell, aber selten so elegant formuliert worden: dass nämlich jede Umbruchszeit die sie einleitenden Geburtswehen selbst hervorbringt. Schon die Griechen und Römer sahen Vorzeichen für den Ausgang von Schlachten in Hagelstürmen und Vulkanausbrüchen, und im alten China pflegten Erdbeben und Überschwemmungen das Ende einer Dynastie anzukündigen.
Auch heute, im Jahre 2020, wird von vielen das Wort „Zeitenwende“ gebraucht, um die Folgen der weltweiten Ausbreitung des Coronavirus zu beschreiben. Ob es sich um eine solche wirklich handelt, oder nur um einen saisonalen Konjunktureinbruch, quasi die Sommergrippe der Globalisierung, werden wir wohl erst in einigen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten abschließend beantworten können.
Ausgehend von dem Friedellschen Gedanken der „Krisis, die sich ihre Krankheit schafft“, können wir allerdings schon heute einige Indizien zusammentragen, die belegen, dass das Auftreten von Covid-19 einen Epochenbruch markiert:
(1) Die Krise der Globalisierung: Manche Beobachter hielten sie schon mit der Abkehr der USA vom freien Welthandel für erledigt.
Nun hat sich der Nationalstaat durch sein wirksames seuchenpolizeiliches Handeln als Garant von Leben und Sicherheit seiner Bürger rehabilitiert, während supranationale Organisationen wie die WHO oder EU als verbos, träge, wenn nicht korrupt erscheinen. Kommt noch die Abhängigkeit des Westens von den globalen Lieferketten hinzu, die unvermeidlich in China enden. Das alles kann nur zu einem Schluss führen: Globalisierung isch endgültig over, ganz gleich, was seine Profiteure uns immer noch einzureden versuchen.
(2) Die Krise der Wissenschaft: „Corona“ bedeutet einen doppelten Vertrauensverlust für die vermeintlich exakten Naturwissenschaften.
Erstens ist immer noch ungeklärt, ob das Virus nun aus einem Wildtiermarkt in Wuhan oder aus dem nahegelegenen militärischen Genlabor stammt. Viele, darunter die US-Regierung, halten letztere für die wahrscheinlichere Variante, worin sie durch die Vertuschungspolitik der chinesischen Regierung nur bestärkt werden. Unheimlich aber ist die Macht der Naturwissenschaften, weil jedes berstende Reagenzglas eine Büchse der Pandora sein kann.
Nun ist man sich der Janusköpfigkeit der modernen Wissenschaft spätestens seit der Erfindung der Atombombe bewusst. Immer schon hatte jede wissenschaftliche Entdeckung zwei Medaillenseiten. Aber in den letzten Jahrzehnten ist die Kehrseite der Medaille allzuoft aufgeblitzt. Wenn wir ehrlich sind, arbeitet die derzeitige Fackelträgerin des Fortschritts, zumindest auf medizinischem Gebiet, die Genetik, längst mit ungedeckten Schecks: Die Versprechungen werden immer atemberaubender, aber der Menschheitsnutzen läßt auf sich warten: Weder sind wir unsterblich geworden, noch von Krebs oder Aids befreit, dafür haben wir „superweeds“ und Insektensterben, und der nächste Laborvirus lauert nur auf seine Chance. Es ist höchste Zeit, all die Frankensteins, die mit der Genschere hantieren, an die Kette zu legen.
Zweitens haben die Wissenschaftler sich in der Mehrzahl als ebenso unsicher und schwach erwiesen wie die Politiker und Verwaltungsleute, die sie beraten. Als Beispiel sei nur die Debatte um den Mundschutz, die reale Covid-19-Sterblichkeit („Heinsberg-Studie“) oder jüngst um die Ansteckungsgefahr durch Kinder genannt. Welchen Wert hat die vermeintliche „Exaktheit“ noch, wenn Virologen sich um wissenschaftliche Schlussfolgerungen in Talkshows streiten wie die Kesselflicker? Und dass ein Mundschutz gegen umherfliegende Tröpfchen zwar nicht 100 %, aber besser als nichts ist, dafür braucht es nur gesunden Menschenverstand, keine Empfehlung des Robert-Koch-Instituts. Bitte nicht mißzuverstehen: Dies macht die einzelnen Akteure, einen Drosten oder Kekule, nur menschlicher und honoriger, aber der Unfehlbarkeitsnimbus, den die „Wissenschaft“ in weiten Kreisen bis heute hatte, ist dahin.
(3) Die Krise der Geldwirtschaft: Eigentlich ist das globale Finanzsystem schon seit 2008 bankrott, was jedem unbefangenen Beobachter klar sein muss. Wir befinden uns, sowohl in Europa wie im Rest der Welt, in einer „Zombie-Ökonomie“, in der nichts „Systemrelevantes“ sterben darf. Wo aber nichts stirbt, kann auch nichts Neues entstehen. Dieser ökonomische Vampirismus ernährt das Alte und Bestehende auf Kosten des Jungen und Neuen, was in den OECD-Ländern sowohl am Rentensystem wie an der Arbeitslosenstatistik abzulesen ist. Und jetzt, im Zeichen von Corona, werden noch einmal hunderte von Milliarden Papiergeld in die Hand genommen, um Totes am Leben zu erhalten. Dabei wäre die einzig richtige Maßnahme, die sich aber niemand getraut, denn allzusehr sind die politischen mit den Finanzeliten verfilzt: die globale Schuldenuhr auf Null zu stellen.
Am Anfang der Neuzeit stand der Sieg von Naturwissenschaft und Geldwirtschaft. Das ist kein Zufall; die beiden sind eng miteinander verwandt, ein Zwillingsgespann. Um noch einmal Friedell zu zitieren (Kulturgeschichte d.N., S. 1035): „Zudem besteht ein enger Zusammenhang zwischen Geldwirtschaft und exakter Naturwissenschaft, überhaupt aller modernen Wissenschaft. In beiden wirkt die Begabung und Neigung, „rechnerisch“ zu denken, womöglich alles womöglich alles in weltgültigen Abstraktionen, Generalbegriffen auszudrücken. Die Forderung, eine solche Formel zu sein, unter die sich schlechterdings alles bringen läßt, erfüllt das Geld in hohem Maße, und daher bildet seine Weltherrschaft einen der großartigsten Triumphe, obschon Scheintriumphe des Rationalismus […].“
Beide, Naturwissenschaft und Geldwirtschaft, die „Sieger“ der Neuzeit, sehen im Jahre 2020 wie Verlierer aus. Es kann daher gut sein, dass, ebenso wie der „Schwarze Tod“ den Eingang der Neuzeit markiert hat, „Corona“ nun ihren Ausgang markiert. Wir befinden uns in – wieder einmal – einer Schwellenzeit, in der das Alte nicht mehr gilt, das Neue aber noch nicht sichtbar ist. Und Covid-19 ist die Krankheit zur Zeit.
Berlin, 1. Juni 2020 Friedrich Wilhelmi