Die Sonne scheint fast spätherbstlich klar, wärmt aber nicht mehr. Jetzt einen Glühwein, denken wir – und fahren über die sonntags fast menschenleere Mitte Berlins, das Gelände zwischen Reichstag und Kanzleramt, von der Friedrichsstraße zur Gedächtniskirche.
Dort findet heuer wieder ein Weihnachtsmarkt statt, nur ein Lustrum (lat.: Jahrfünft) von den „Ereignissen“ des 19. Dezember 2016 entfernt, als ein „Mann“ einen LKW in die Menschenmenge und die Buden vor der Gedächtniskirche steuerte, dabei 13 Menschen tötete und viele weitere verletzte.
Der Mann hieß Anis Amri. Dass wir seinen vollen Namen und sein Gesicht kennen, ist für das Deutschland des Jahres 2021 ungewöhnlich. Normalerweise bleiben Attentäter inzwischen anonym, bleiben „Männer“, höchstens der Vorname und der erste Buchstabe des Nachnamens werden in den Medien genannt, oft auch das nicht, angeblich, um Vorurteilen und falschen Schlussfolgerungen zu begegnen.
Amri bekam in den Medien jedoch seinen Namen und sein Gesicht, vielleicht, um die zwischenzeitlich widerlegte Hypothese, er sei ein Einzeltäter gewesen, mit Leben und Fleisch zu füllen.
Sonntag, 28. November 2021, 14.30 Uhr. Wenn man am aufgehübschten „Bikini“-Gebäude vorbeifährt, merkt man gar nicht, wie stark das Weihnachtsmarktsgelände abgeschirmt ist gegen Terroranschläge wie den von Amri, nennen wir ihn schlicht eine „Lastwagenattacke“. Die „Merkelpoller“ genannten Betonsperren sind gut durch Weihnachtsdeko getarnt. Käme allerdings jemand auf die Idee, mit einem Sprengstoffgürtel oder einer Maschinenpistole unter der Jacke vor der Gedächtniskirche zu spazieren, er hätte gute Chancen, unbehelligt zu Werke gehen zu können.
Aber es kommt heute gottseidank zu keinen Zwischenfällen, wenn man davon absieht, dass ein Ordner mich zum Tragen der medizinischen Maske auffordert, einer Bitte, der ich pflichtschuldig nachkomme, als Ungeimpfter froh, überhaupt zum Glühweinstand vorgelassen zu werden. Im Jahre 2021 haben sich die Prioritäten in Deutschland verschoben: Furcht erregt vor allem die Omikronvariante des Virus, Unmut provozieren die „Gleichgültigen und Egoisten“ (O-Ton Michael Müller, Regierender Bürgermeister Berlins), deren Impfverweigerung von manchen gar als „Terror der Ungeimpften“ apostrophiert wird.
Nach Glühwein und Raclette verlassen meine Frau und ich den Markt, bevor es dunkel wird. Wir bemerken einige Kopftuchträgerinnen im Publikum, feiern die jetzt auch Weihnachten? Immerhin hat die Diskussion um die Vollverschleierung an Hitze verloren: Maske tragen inzwischen alle.
29.11. 2021, F.W.