2021 ist das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen, ja, unangenehme Tuchfühlung aufnehmen müssen: mit unserer jüngsten Vergangenheit.
Vor wenigen Wochen haben uns bärtige Männer mit Turbanen und Kalaschnikows verschreckt, welche das von den Amerikanern zurücklassene Machtvakuum in Kabul binnen kürzester Frist füllten. Das zwanzigjährige afghanische Abenteuer ging schmachvoll zuende, mit Bildern, die auf fatale Weise an jene vom amerikanischen Abzug aus Vietnam erinnern, 45 Jahre davor.
Und für uns Deutsche doppelt demütigend die Ahnungslosigkeit unserer Führung im afghanischen Chaos – aber spüren wir überhaupt noch irgendwas? Hat uns nicht alle in den letzten Jahren, sagen wir, seit 2015, eine politische Fühllosigkeit befallen, gewissermaßen die Merkel-Variante der Lepra?
Jetzt also, nur wenige Wochen später, ein weiterer Zwanzigjahrestag: 20 Jahre 9/11. Sprich:nine-eleven, auch unter Deutschen.
Ich weiß tatsächlich noch genau, wo ich damals gewesen war, nämlich in meinem Büro, und irgendjemand rief mich an und sagte, ich solle doch einmal den Fernseher anmachen, und dann sah ich Ulrich Wickert, ehedem Tagesschausprecher, vor rauchenden Türmen, erst qualmte der eine, dann der zweite, und dann stürzten sie beide ein. Live und in Farbe.
Was war damals passiert? Es war nicht, wie manche Beobachter meinten, der Anfang vom Ende des amerikanischen Imperiums. Der hatte tatsächlich schon viel früher eingesetzt, spätestens mit der Verlotterung der Clintonära in den 90er Jahren und der Politik des schnellen und billigen Geldes.
Der Angriff auf die Zwillingstürme des World Trade Center in Manhattan, New York hätte für sich genommen auch die „einzig verbliebene Supermacht“, als die sich Amerika damals wähnte, niemals in die Knie zwingen können.
In die Knie gezwungen haben sich die USA ausschließlich selbst. Und einen gehörigen Anteil daran haben die blindwütigen, kriegerischen, neurotischen Reaktionen der herausgeforderten Weltmacht. Erst wurde Afghanistan mit Krieg überzogen, dann der Irak. Beidesmal waren die Gründe fadenscheinig, Erfolge im „Kampf gegen den Terror“ hatten nur Rüstungsfirmen, Ölsucher und private Sicherheitsdienste.
Der „Westen“ hatte sich festgefressen im mittelasiatischen Sand und kam aus der Nummer nicht mehr heraus. Billionen verpulvert, Staatsgebilde zerstört (Irak, Libyen), Menschenleben geopfert, eigene und fremde. Vor allem aber den Nimbus zerstört, die „soft power“, den die USA noch zur Zeit des Kalten Krieges besessen hatte, trotz allem irgendwie sexier zu sein als zumindest die Russen oder die Nazis, auch wenn das lange her ist.
Aber nun: Bilder von folternden weiblichen US-Sergeants, von sinnloser Zerstörung von Kulturgütern (etwa der Museen in Bagdad) gingen um die Welt, während Informationen über Korruption und Bereicherung der US-Chargen nur allmählich ins allgemeine Bewusstsein sickerten.
Nicht 9/11 hat die USA zerstört, sondern das, was davor, und vor allem, was danach kam. Aber der 11. September 2001 war das Schlüsselereignis. Es war, als hätte der Chefplaner der Attentäter zur Vorbereitung Homer gelesen, die Stelle, wo der einäugige Riese Polyphem Odysseus und seine Gefährten in seiner Höhe gefangen hält und einen nach dem anderen verschlingt. Der Riese ist nicht zu besiegen, zu groß sind seine Körperkräfte. Also blendet der schlaue Odysseus ihn, mit einem brennenden, angespitzten Scheit, während er schläft.
Der geblendete Riese will die menschlichen Zwerge vernichten, und schleudert Felsbrocken neben ihr Boot ins Meer, aber er kann sie nicht treffen; sie entkommen.
Der wütende, trotz aller Kraft hilfose, blinde Riese: Das sind die USA, bis auf den heutigen Tag.
11.9. 2021 F.W.